im aktuellen Newsletter von TEMPEST habe ich folgenden Artikel gefunden, der für Krimiautoren von Interesse sein dürfte:
"Die Kluft zwischen Fiktion und Wirklichkeit bei Mordfällen"
von Toni Feller
In den 26 Jahren meiner Mitgliedschaft bei der Mordkommission des
Polizeipräsidiums Karlsruhe hatte ich immer an vorderster Front zu
tun. Ich war Mordermittler.
Die Mordkommission (MOKO)
Eine MOKO besteht aus dem Kommissionsleiter, seinem Stellvertreter und
in der Regel aus fünf Unterabteilungen:
-- die Ermittlungsgruppe: Sie besteht aus 10 bis 12 BeamtInnen, die
ausschließlich Hinweisen und Spuren nachgehen, Zeugen, Beteiligte und
Tatverdächtige befragen, und notwendige Recherchen durchführen.?
-- die Spurendokumentation und Auswertung: Sie erfasst alle Hinweise
und Spuren in elektronischer Form, erkennt Zusammenhänge, führt Spuren
und Hinweise zusammen und bedient die Ermittlungsgruppe mit wichtigen
Erkenntnissen.?
-- operative Maßnahmen und Fahndung: Sie fahndet nach
Sachgegenständen, Zeugen und Tatverdächtigen, führt Observationen und
Festnahmen durch.?
-- die Kriminaltechnik: Sie ist heutzutage mit die wichtigste
Einrichtung einer MOKO. Selbst wenn der Täter allein durch die Arbeit
der Ermittlungsgruppe gefasst wird, was selten vorkommt, haben die
Kriminaltechniker die Aufgabe, den Tatverdacht und später die Anklage
durch kriminaltechnische Spuren zu untermauern. ?
-- die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sie hat die Aufgabe, die
Fahndung nach Tatverdächtigen und Zeugen mit entsprechenden Beiträgen
in Zeitungen, Radio und Fernsehen zu unterstützen.
Wichtig zu wissen: Eine MOKO ist ein Getriebe mit vielen großen und
kleinen Zahnrädern, die möglichst reibungslos ineinander greifen
müssen. Wenn ein Zahnrad nicht funktioniert, kann die Aufklärung des
Mordes aufs Höchste gefährdet sein. Teamgeist hat absolute Priorität.
Nicht der Kommissionsleiter klärt den Mord auf, sondern die gesamte
Mannschaft, die in Karlsruhe in der Grundausstattung mit 25 bis 30
Beamtinnen und Beamten bestückt ist.
Dieser Umstand ist natürlich in einem Buch oder Film nicht nur schwer
umzusetzen, sondern auch kaum zu verkaufen. Wir Autoren brauchen einen
Helden, der letztendlich den Mörder immer mehr in die Enge treibt, bis
er ihn im Showdown schließlich stellt und der gerechten Strafe
zuführt. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass man sich als Autor sehr
wohl einigermaßen an der Wirklichkeit orientieren kann, wenn man das
möchte. In meinen Romanen lasse ich zum Beispiel die Mordkommission im
Hintergrund laufen, während mein Held und Mordermittler viel ackert,
gelegentlich gegen den Strom schwimmt und letztendlich zum Erfolg
kommt. Aber ohne seine Kollegen von der MOKO wäre das nie möglich
gewesen.
Wenn ich mit Autoren spreche, wundere ich mich immer wieder, mit welch
hohem Aufwand die meisten recherchieren, um möglichst
wirklichkeitstreu über Dinge zu schreiben, die ihnen vorher fremd
waren. Sie verbeißen sich manchmal mit unglaublicher Akribie in die
Recherche, und am Ende ist alles auch stimmig - nur die Arbeit ihres
Helden, ihres Protagonisten ist total falsch und bar jeder
Wirklichkeit dargestellt, ist frei erfunden.
Ich frage mich dann, warum sich diese Autoren überhaupt die Mühe
machen, zu recherchieren, wenn sie dabei die Hauptsache, die
kriminalpolizeiliche Arbeit bei Mordfällen, so stümperhaft darstellen.
Die häufigsten Fehler in Kriminalfilmen und -romanen?
1. Ein Privatdetektiv, Reporter, Gerichtsmediziner, Rechts- oder
Staatsanwalt oder sonst eine Person ermittelt eigenständig in einem
Mordfall und überführt natürlich auch den Täter.
Das entspricht nicht im Geringsten der Realität. Um einen Mörder zu
finden und zu überführen, bedarf es in der Regel eines riesigen
Aufwandes an Fachwissen, Logistik und polizeilicher Maßnahmen. Niemand
anders als die Kriminalpolizei kann diesen Anforderungen gerecht
werden.?
2. Der Rechtsmediziner ist vor der Kripo am Tatort.
Nie und nimmer! Richtig ist, dass der Pathologe erst gerufen wird,
wenn es die Kriminalpolizei für erforderlich hält.?
3. Ein Kommissar benutzt sein Privatfahrzeug. Das muss natürlich ein
besonders originelles sein, zum Beispiel ein Motorroller, ein altes
Rennrad oder ein uraltes Opelcoupe.
Das ist allein schon aus versicherungstechnischen Gründen Unsinn.
Kriminalbeamte sind ausschließlich mit Dienstfahrzeugen unterwegs.?
4. Kriminalbeamte laufen mit offener Pistole und Handschließen in der
Gegend herum.
Warum sollten sie das tun? Sie sind doch in Zivil unterwegs und wollen
erst mal nicht gleich als Polizisten erkannt werden. Allerdings gibt
es heute vereinzelt auch Angeber, meist junge Kollegen, die meinen,
sie müssten ihre Knarre offen tragen, um zu zeigen, was sie für tolle
Hechte sind.?
5. Das Opfer ist zufällig Verwandter, Geliebte oder sonstige
Bezugsperson des Kommissars.
So etwas kommt äußerst selten vor und wenn, wird der betroffene Beamte
von den Ermittlungen ausgeschlossen. Er wird allenfalls als
Auskunftsperson herangezogen.?
6. Eine Kommissarin liegt im Krankenhaus, und zufällig wird auf ihrer
Station ein Arzt umgebracht.
So etwas ist einfach lachhaft. Wer als Autor mit solchen Zufällen
arbeitet, macht sich unglaubwürdig.?
7. Mehrere Zeugen werden vom Kommissar auf einmal vernommen.
Das ist der größte Fehler, den ein Ermittler machen kann. Personen
vernimmt man einzeln, gleicht die Aussagen ab, arbeitet Widersprüche
heraus und überführt damit den Täter.?
8. Zeugen werden in Anwesenheit des Tatverdächtigen vernommen.
Auch das kommt in der Realität nicht vor. Damit würde man wichtige
Trümpfe aus der Hand geben.?
9. Ein Mord wird nur von einem einzigen Kommissar oder höchstens von
einem Ermittlerduo bearbeitet.
Nein. Liegt ein Mord mit zunächst unbekanntem Täter vor, wird immer
eine Soko oder Moko ins Leben gerufen.?
10. Ein Mord wird von uniformierten Polizisten bearbeitet.
Falsch. Ein Kapitalverbrechen wird in Deutschland immer von der Kripo
bearbeitet. ?
11. Ein Mordermittler arbeitet mit einem Reporter, Buchautor, Detektiv
o. Ä. Hand in Hand, und gemeinsam überführen sie den Täter.
Auch das stimmt nicht. Allenfalls dienen die genannten Personen dazu,
Auskünfte und Hinweise zu geben.?
12. Der Protagonist verfolgt und observiert den Tatverdächtigen über
längere Zeit.
Unwahrscheinlich. Eine Observation erfordert einen hohen Personal- und
Zeitaufwand. Um eine einzige Person dauerhaft und wirksam zu
observieren, sind je nach Lage bis zu 24 Beamte nötig.?
13. Bei einem Schusswechsel wird geschossen, was das Zeug hält.
In einer Pistole sind aber maximal 13 Schuss und im Revolver sechs.
14. Der Protagonist und Kommissar hört Telefongespräche ab.
Das machen in der Regel spezielle Kräfte, die dem Kommissar das
Ergebnis dann mitteilen.?
15. Der Tatverdächtige soll sich "zur Verfügung halten".
Nein, nicht einmal ein Tatverdächtiger, der aufgrund fehlender Beweise
nicht in Untersuchungshaft genommen werden kann, muss sich "zur
Verfügung" halten. Die Einbehaltung seines Passes ist aber möglich.?
Was ist überhaupt ein Mord??
Nicht immer, wenn ein Mensch gewaltsam zu Tode kommt, liegt ein Mord
vor. Das wird von den meisten Autoren nicht beachtet. Gerne wird aus
jedem Delikt, bei dem ein Mensch zu Tode kommt, ein Mord konstruiert.
Im Strafgesetzbuch gibt es jedoch prägnante Differenzierungen, die
sich dann auch im Strafmaß auswirken. Es wird im Groben unterschieden
zwischen:
-- Mord
-- Totschlag
-- Körperverletzung mit Todesfolge
-- Schwere Brandstiftung mit Todesfolge
-- Sexueller Missbrauch von Kindern mit Todesfolge
-- Vergewaltigung mit Todesfolge
-- Sexuelle Nötigung mit Todesfolge
-- Entführung mit Todesfolge
-- Fahrlässige Tötung
-- Tötung auf Verlangen
Wie läuft ein Mordfall mit unbekanntem Täter ab??
1. Auffinden des Toten
2. Schutzpolizei kommt vor Ort.
3. Kriminaldauerdienst wird gerufen.
4. Kriminaldauerdienst informiert die Leitung der Kriminalpolizei.
5. Alarmierung der Mordkommission.
6. Kriminaltechnik wird zum Tatort gerufen.
7. Gerichtsmediziner und Staatsanwalt werden zum Tatort gerufen.
8. Erste Besprechung der Lage
9. Festlegung von ersten Maßnahmen und Verteilung von Aufgaben an die
Mitglieder der MOKO. Zum Beispiel: Errichtung der Logistik,
Nachbarschaftsbefragungen, Zeugenbefragungen, Sicherstellung von
sämtlichen Datenträgern und Telefonen, Notizbüchern, Briefen,
Fahrzeugen etc., erste Auswertung der Handys,?Anträge für
Durchsuchungen, Haftbefehle, Telefonüberwachungsmaßnahmen, Öffnen von
Briefen etc.?
Erste Maßnahmen sind sehr wichtig und führen oft schnell zum Erfolg.
Mit jedem Tag, der verstreicht, wird die Aufklärung eines Mordes
schwieriger.
Beim Schreiben tue ich mich oft schwer damit, von der Realität allzu
sehr abzuweichen, weil ich dann das Gefühl bekomme, vor meinen Lesern
unglaubwürdig zu erscheinen. Als ich dieses Jahr einen Thriller und
Bestseller las, bei dem in Anlehnung an das Struwwelpeter-Märchen
mehrere Frauen auf verschiedene Art und Weisen getötet wurden und
diese Morde sowie Täter und Protagonist unrealistisch waren, sprach
ich auf der Criminale den Autor an. Er vertrat die Auffassung, dass
er, ohne Rücksicht auf jegliche Realität, unbedingt Personen und
Handlungen beschreiben wollte, die zuvor noch kein anderer Autor zu
Papier gebracht hatte. Meinen Einwand, ob er nicht befürchte, für dumm
und unwissend gehalten zu werden, tat er damit ab, dass ihm der Erfolg
doch recht gegeben habe.
Ich atmete tief durch. Vielleicht werde ich in Zukunft nicht mehr so
streng mit mir und der Wirklichkeit umgehen und einen goldenen
Mittelweg suchen.
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Toni Feller (1951), Kriminalhauptkommissar, Mordkommission, 1994 erste
Veröffentlichung eines Lyrikbandes, bis heute insgesamt 12 Bücher
verschiedener Genre, 12 Bühnenstücke (Komödien), Drehbuchvorlagen für
drei Dokumentarfilme, Publikationen in Fachzeitschriften, mehrere
Auszeichnungen des Arbeitskreises Heimatpflege Nordbaden. Sieben TV-
Auftritte als Buchautor.
Quelle: TEMPEST, Ausgabe Juli 2016
Herzliche Grüße
Ernst