Liebe Mitforlinge
ich glaube in jedem Forum, in dem Schreibkritik betrieben wird, taucht das Thema des Umgangs mit und der Weise von Kritik auf. Hier bei uns empfinde ich den gegenseitigen Umgang sehr achtsam und angenehm. Trotzdem möchte ich das Thema auf einer allgemeineren Ebene gerne anschneiden, weil es nicht nur bei Schreibkritik, sondern allgemein interessant ist. Im Thread Autorenleben finde ich es passend, da ja jeder, die/der sich ernsthaft mit dem Schreiben beschäftigt, damit konfrontiert wird. Auch denke ich, dass es ganz gut als öffentliches Thema passt, da es eben allgemeineren Charakter hat, wie wir gleich sehen werden.
Mit den Begriffen Offenheit und Kritik kratzt man an psychologischen Wurzeln. Denn jeder möchte gerne offen seine Kritik äußern und niemand will Kritik hören. Aber warum ist das so?
Wir haben Werte, die aussagen, was wir für wichtig, gut, schlecht, falsch, moralisch, ethisch etc, halten. Diese Werte stellen unsere persönliche Existenzgrundlage dar! Automatisch - und das heißt unbewusst - stufen wir alles, was diesen Werten widerspricht als feindlich ein, weil es nämlich unsere Grundlage bedroht.
Auch wenn das nur drei Sätze waren, so beschreiben sie den Grund für praktisch alle Auseinandersetzungen bis hin zu diversen Beziehungsproblemen. Dazu kommen nun Konstitutionen, die sich zwischen den zwei Polen ›heikel/empfindlich‹ und ›dicke Haut‹ bewegen. Wobei ich dicke Haut nicht wirklich als Tugend sehe, denn oft ist das nur Verdrängen und Nichtwahrhabenwollen, was mit überzogenem Selbstbewusstsein kompensiert wird bzw. beschützt wird. Dünnhäuter reagieren mit Rückzug. Wir haben es also auch hier mit den zwei archaischen Reaktionen Angriff oder Flucht zu tun.
Mit dem mittlerweile fast in Schrifstellerkreisen als gesellschaftliche Muss geltenden Bedürfnis nach Kritik an den selbstverfassten Texten begeben wir uns auf ein Pflaster, das nach diesen Ausführungen nur heiß sein kann. Solange sich Dickhäuter treffen geht alles gut. Aber was ist bei gemischthäutlichem Kontakt ...?
Vorher aber ein anderer Aspekt: Stellungnahme zu Texten - ich sage absichtlich nicht Kritik - hat zwei Aspekte. Für den sich Äußernden geht es darum, das möglichst frei tun zu können. Für den Empfangenden besteht das Geschenk darin, einen Blick in das Wesen des sich Öffnenden tun zu können. Dem stehen zwei Schwierigkeiten im Weg: Der sich Äußernde sollte, wenn er schon bereit ist, sich zu öffnen, nicht Rücksicht darauf nehmen müssen, ob er emotionale Fettnäpfe betritt. Gleichzeitig aber geht es um Kritik, also heikel, und deshalb ist Achtsamkeit angesagt. Der Empfangende tut sich meist schwer, die Stellungnahme als nur solche zu sehen, weil meistens seine Werte angekratzt werden.
Problem bei Dickhäutern: Ausgabe: Polterndes, gedankenloses Von-sich-Geben ohne Rücksicht auf Verluste. Empfang: Bezieht 'Kritik' nicht auf sich.
Problem bei Dünnhäutern: Ausgabe: Übervorsichtige Formulierungen mit Entschuldigungen für die Offenheit, um damit Achtsamkeit zu dokumentieren. Empfang: Leicht verletzt, schneller Rückzug, wenn die Umgebung zu rau ist.
Beides kann mühsam werden: Hier das ständige Überlegen ›sag ich's achtsam genug?‹ dort das Beteuern ›ich meine es nicht bös‹.
Dass diese Gegebenheiten natürlich in Wirklichkeit Lebensaufgaben für beide sind, für die einen, sich in Achtsamkeit zu üben, für die anderen, aus sich herauszugehen und Selbstbewusstsein zu erlangen, liegt auf der Hand. Aber damit möchte ich das Thema nicht als Monolog stehen lassen (wofür dann überhaupt?), sondern mich würde es freuen, wenn eine Unterhaltung zustande käme, wie man diesen Vorgang des Abgleichs gestalten kann? Was könnte man für Schritte überlegen, wenn dem einen der Gedanke ›das ist mir zu roh, ich ziehe mich zurück‹, dem anderen ›das ist ja ein Kindergarten, zu blöd, ich hau ab‹ kommen? Wie kann man zu einem
zwanglosen Austausch gelangen?
Jetzt bin ich neugierig
Schöne Wochenend-Grüße
Martin