5. Helden, Bösewichte und Identifikationspersonen (Teil 1)
Ein Freund von mir, Autor u. a. eines historischen Romans, erzählte mir einmal von einer Ablehnung, die folgendermaßen begründet war: Der Roman sei zwar sehr gut recherchiert und spannend geschrieben, jedoch von der Erzählhaltung her zu distanziert, weshalb es Lesern nicht möglich sei, sich in irgendeiner Form mit den Hauptfiguren zu identifizieren. Er fragte mich, wer um alles in der Welt sich mit historischen Personen, die noch dazu nicht übermäßig sympathisch waren, identifizieren möchte.
Einmal abgesehen davon, dass sich jeder Autor über eine begründete Ablehnung (die heutzutage extrem selten ist) freuen sollte, denn aus ihr kann er nur lernen, wird mit der Leseridentifikation das Wesen des Romans berührt. Für den historischen Roman (für mich die »Königsdisziplin«) gilt das Gleiche wie für alle anderen Romangattungen: Der Leser braucht Identifikationspersonen. Wenn in einem Roman nur abstoßende Schurken auftreten, wird das Interesse schnell erlahmen. Wenn aber ein unschuldiger Held oder eine unschuldige Heldin unter abstoßende Schurken gerät und unterzugehen droht, ist das Interesse sofort da. Ich als Leser kann mich sehr gut mit Edmond Dantès identifizieren, der erlittenes Unrecht rächt, und ebenso mit d’Artagnan, dem jungen Gascogner, der gemeinsam mit drei Musketieren in Staatsintrigen verwickelt wird, die ihn Kopf und Kragen kosten können. Hingegen kann ich mich mit nicht Massenmördern identifizieren, die aus persönlichen oder ideologischen Gründen (dazu zählen auch »religiöse« Gründe) ganze Landstriche entvölkern.
Also: Wir brauchen einen Helden und / oder eine Heldin, die gewisse Züge aufweisen, die sie uns sympathisch machen. Und das sind vor allem Charakterzüge, wohingegen die physische Erscheinung nicht immer eine bedeutende Rolle spielt. Man kann sich beispielsweise durchaus in einen Liliputaner hineindenken, dessen Liebe zu einer normal gewachsenen Trapezkünstlerin auf die übelste Weise ausgenutzt wird – wie in Tod Brownings Film Freaks von 1932. (Übrigens ein äußerst warmherziger Film, der keinesfalls in die Horror-Ecke gehört, in die er immer gerückt wird.) Aber natürlich fällt eine Identifikation leichter, wenn der Held bzw. die Heldin dem – physischen und psychischen – Idealbild nahekommt: »So wäre ich gerne! (Seufz.)« Ich weiß ja nicht, wie es mit Ihnen steht, aber meine Generation hat als Kinder noch Winnetou und Old Shatterhand gespielt, oder auch mal Kara ben Nemsi. Es hat ja einen Grund, dass die Bücher, in denen sie auftreten, auch nach über 100 Jahren noch gelesen werden: Es sind mustergültige literarische Identifikationspersonen, aus deren Ausgestaltung man eine Menge lernen kann. (Wer wird in 100 Jahren noch etwas mit dem Namen Harry Potter anfangen können?)
Soll der Held daher fehlerlos sein? Eher nicht. Die Identifikation fällt leichter, wenn er mindestens eine signifikante Schwäche hat, die sein Verhalten in bestimmten Situationen beeinflusst. In Alfred Hitchcocks Vertigo zum Beispiel kann James Stewart die Treppe eines Turms nicht erklimmen, als es darauf ankommt. Könnte er es, würde sich die Handlung in eine völlig andere Richtung entwickeln. Aber diese Schwäche hat nicht nur Einfluss auf die Handlung, sie trägt auch dazu bei, Jimmy Stewarts Figur sympathischer zu machen – menschlicher.
Soll der Bösewicht abgrundtief böse – und nur böse – sein? Diese Frage ist schwerer zu beantworten. Wenngleich man sich stets vor Schwarz-Weiß-Malerei hüten muss, geht doch kaum etwas über einen hassenswerten Bösewicht. Weist dieser jedoch keinerlei menschliche Züge auf, so mündet das in ein Glaubwürdigkeitsproblem. Hinzu kommt, dass der Bösewicht – ebenso wie der Held – über ein eigenes, konsequentes Wertesystem verfügen sollte, auch wenn es ein »verkorkstes« ist. Er sollte also »sich selbst treu« sein, wie man so schön sagt. Und dann ist da ja immer noch die Frage: Warum ist er so böse?
Oft sind die Bösewichte sogar interessantere Gestalten als die Helden und überschatten diese; das kann im Extremfall dazu führen, dass der Held farblos wirkt. Glauben Sie’s oder nicht: Auf 500 Seiten kann der Autor Tausende von Fehlern machen. (Und nur wer nicht arbeitet, macht keine Fehler. Denken Sie bitte daran, bevor Sie bei der nächsten Rezension einen Roman wegen ein paar Fehlern in der Luft zerreißen – oder schlichtweg deshalb, weil Sie etwas anderes erwartet haben. Der Autor ist nicht verantwortlich für Ihre Erwartungshaltung. Der Verlag allerdings kann durchaus falsche Erwartungen wecken, durch Titel, Covergestaltung, Klappentext, Werbung ... Aber dann ist der Autor das Opfer, nicht der Täter, und verdient Ihre Solidarität. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche!)
Nächste Frage: Soll man sich für einen Helden oder eine Heldin oder gar für beides entscheiden? Darauf lässt sich keine pauschale Antwort geben; sie hängt u. a. ab von der Zielgruppe und vom Genre, in dem man sich bewegt. Western haben typischerweise männliche Helden (natürlich gibt es auch solche mit Heldinnen, aber die sind deutlich in der Minderzahl), »Romance« typischerweise weibliche. Der Grund ist klar: Western wenden sich hauptsächlich an Männer, romantische Literatur hauptsächlich an Frauen. (Oh ja, es gibt durchaus Unterschiede zwischen Männern und Frauen, nicht nur physische, auch wenn die »McCarthy-FeministInnen« Jahrmillionen der Evolution mit einem Federstrich abschaffen zu können glauben.) Aber das Fantasy-Genre scheint keine so deutliche Präferenz zu haben, und als Zielgruppe habe ich im zweiten Blogeintrag mit voller Absicht »männlich und weiblich, Jung und Alt« definiert; schließlich soll die Zielgruppe so groß wie möglich sein.
Damit liegt die Lösung auf der Hand: Ich will einen Helden und eine Heldin. Und diese Wahl legt gleichzeitig den Grundstock für die dann (fast) unausweichliche Liebesgeschichte, die einen zweiten, kleineren Handlungsfaden bilden wird (neben dem Haupt-Handlungsfaden, den ich im letzten Blogeintrag festgelegt habe). Jeder liest eine gute Liebesgeschichte gern, sogar ich in meinem Alter, vorausgesetzt, sie drängt sich nicht allzu sehr in den Vordergrund. Täte sie das, hätten wir keinen »abenteuerlichen Fantasy-Roman« mehr, sondern »Fantasy-Romance«, und das ist etwas völlig anderes.
Wird es für die beiden ein Happy End geben? Natürlich! Aus zwei Gründen:
a) Das Identifikationsproblem: Das mit Romeo und Julia mag ja eine wirklich große Liebe gewesen sein, aber Hand aufs Herz: Würden Sie wirklich dafür sterben wollen? Keine Frau bzw. kein Mann ist das wert. Es gibt mindestens hundert bessere Gründe für einen Selbstmord. (So spricht ein seit zehn Jahren verheirateter Mann!)
b) Die Erwartungshaltung der Leser: Wenn in einem kommerziellen Roman (und ich betone hier das Wort kommerziell [engl. commercial fiction], in dem ich absolut nichts Ehrenrühriges sehe, ganz im Gegenteil) sich eine Liebesbeziehung abzeichnet, erwartet der Leser, dass »sie sich am Ende kriegen«. Wenn man als Autor diese Erwartung enttäuscht, braucht man verdammt gute Gründe dafür. Und trotzdem muss man gewärtig sein, dass der Leser das Buch in die Ecke pfeffert (oder das E-Book zurückgibt) und fürderhin nie wieder etwas kauft, auf dem der Name des Autors prangt.
Frage: Wo bleibt die Spannung, wenn wir bereits wissen, dass es ein Happy End geben wird? Ganz einfach: Im Weg zu diesem Ziel. Es wird kein »Ich kam, sah und siegte« geben, kein »Verliebt, verlobt, verheiratet«. Möglicherweise ist es Liebe auf den ersten Blick – das weiß ich im Moment noch nicht –, aber in jedem Fall werden die beiden gewaltige Hindernisse zu überwinden haben, bis sie zueinander finden können. Hindernisse, die sie an den Rand des Todes bringen werden.
Durch die Festlegung auf ein Happy End (wovon ja erst mal auch nur die Leser dieses Blogs wissen, die es natürlich niemals weitersagen würden) nehme ich die Spannung nicht etwa weg, sondern verlagere sie nur vom Ob auf das Wie. Denken Sie einfach an Ihre Lieblings-Fernsehserie: Sie wissen, dass der Held oder die Heldin die Folge überleben wird (schließlich will der Produzent auch nächste Woche noch die Werbe-Einnahmen kassieren), aber Sie sehen trotzdem jede Woche zu. Das Wie ist der entscheidende Punkt! Um nochmals auf Hitchcocks Vertigo zu sprechen zu kommen (für mich einer der besten Thriller, die je gedreht wurden): Im Gegensatz zur literarischen Vorlage hat Hitchcock sich dafür entschieden, das Mordkomplott bereits nach etwa zwei Dritteln des Films aufzudecken. War der Rest des Films damit uninteressant? Keineswegs. Hitchcock hat die Spannung nur verlagert, von »Was ist wirklich passiert?« zu »Wie geht es weiter?«. Nichtsdestotrotz gehörte (zumal damals) verdammt viel Selbstvertrauen und Mut dazu, das zu tun.
So viel für heute. Die Arbeit wartet ... Im nächsten Blogeintrag schreibe ich über die Bösewichte und anderen Handlungsträger der Geschichte. Wie stets würde ich mich freuen, Sie auch dann wieder als Leser begrüßen zu dürfen.